Mit weniger zu Meer

Verzicht oder Bereicherung?
Verzicht oder Bereicherung – unser Fokusthema für den Monat Mai.

Zur Einstimmung lädt uns Jessica Genetelli ein mit ihren persönlichen Erfahrungen auf ihrer Reise.

  1. Mai 2021 Jessica Genetelli

„Denn ein vom Konsum bestimmtes Glück von heute ist schon das Unglück von morgen – weil das nächste, noch bessere Produkt schon vor der Türe steht.“ – Soziologe Harald Welzer*

Früher hätte ich dieses Zitat ganz und gar nicht verstanden, denn ich war ich eine typische „Shoppaholic“: Als geübte Schnäppchen-Jägerin war ich es gewohnt, stundenlange Onlinerecherche vor jedem Shoppingtrip zu betreiben. Es war fast schon eine Art Sport für mich, mit einem Teil einen möglichst guten Deal zu kriegen.

Umso erstaunlicher , dass ich mich im Oktober 2018 mit einem 40-Liter Rucksack auf Weltreise begab. Ursprünglich um Geld zu sparen, reiste ich nur mit Handgepäck, 7 Kilo leicht sollte mein ganzer Besitz auf unbestimmte Zeit sein. Man würde vielleicht vermuten, als erstmalige Alleinreisende wäre meine größte Sorge zu diesem Zeitpunkt meine Sicherheit oder der reibungslose Ablauf der Reise gewesen, doch dem war nicht so: Der Gedanke daran, dass mein „Kleiderschrank“ der kommenden Monate aus 5 Ober-, 3 Unterteilen und 2 Paar Schuhen bestehen würde war viel beängstigender als alleinreisende Blondine auch im 21. Jahrhundert ein nicht vernachlässigbares Risiko einzugehen.

Die Logik hinter meiner bisherigen Denkweise war, dass ich erwartete, Erfüllung und inneren Frieden durch den Erwerb von mehr Besitz zu erlangen. Dies war auch der ursprüngliche Grund, weshalb ich mein Studium an der HSG absolviert hatte. Im Porsche weint es sich schliesslich besser als im Opel, oder?

Wie sich jedoch zeigen sollte, war mein Weg zum Reichtum stattdessen mit Loslassen meiner materiellen Selbstidentifikation und Verzicht gepflastert.

Dauerhafte Bedürfnisbefriedigung (ein Terminus, den ich an der HSG womöglich immer im falschen Kontext gelernt hatte) meines Seins musste doch auch längerfristig erreichbar sein. Denn Konsum erfreut nur wenige Momente lang; Dinge gehen kaputt, verloren oder kommen aus der Mode. Bei Erinnerungen jedoch ist das anders: Erinnerungen sind Glück von Innen, man kann sie mir nicht nehmen und ich habe sie immer zu Hand. Gegenstände hingegen sind wie ein Anker, der nicht vor Schwankungen schützt, sondern einen herunterzieht.

Und vor Schwankungen zu schützen wäre ja auch nur wünschenswert, wenn Veränderungen stets negativ wären, oder? Langsam dämmerte es mir: Die traditionelle Notion von Wohlstand und Reichtum scheint nurmehr ein Pflaster für was auch immer die Seele gerade umtreibt zu sein, jedoch keine langfristige Lösung.

Schlussendlich war der Verzicht darauf, mehr Dinge auf meine Reise mitzunehmen, überhaupt die Voraussetzung für die Möglichkeit, mir meinen inneren Wohlstand zu erarbeiten: Mein teuerster Besitz sind und bleiben meine Erinnerungen, die ich nur durch die Leichtigkeit meiner Habe machen konnte. Doch das Beste war, dass ich ein völlig neues Gefühl kennenlernte.

Ein Gefühl, dass ich weder vor noch nach meiner Reise jemals wieder hatte und wahrscheinlich auch sonst niemals mehr verspüren werde: Völlige innere Freiheit.

Freiheit vom Anker des Materiellen. Freiheit im Kopf, der sich nicht mehr damit beschäftigen musste, welches Outfit wohl am besten zum gegebenen Anlass passte. Freiheit meines Geistes von all den Sachen, die ich zu brauchen meinte, ohne dass sie mir irgendeinen wahren Mehrwert verschafft hätten.

Das Wissen hingegen, allen Besitz auf dem eigenen Rücken tragen zu können, kommt für mich dem Gefühl von Freiheit am nächsten. Und was anderes ist denn das Ziel unseres Lebens, wenn nicht wahrhaftiges Glück und Freiheit? Dieses eine Gefühl, dass die Welt nur darauf wartet, entdeckt zu werden, bedeutete auch Freiheit für meinen Geist, sich darauf zu fokussieren was für mich wirklich zählt: Momente mit anderen Menschen.

Unweigerlich stellt sich mir nun die Frage:  Wie würde die Welt wohl aussehen, wenn diese Erkenntnis nicht nur für mich gälte, sondern auch für andere? Oder erneut in den Worten von Harald Welzer: „Worum geht es in unserem Leben, das ja, von aussen her, bestimmt wird von einem beispiellosen Siegeszug der Konsumgesellschaft?“. Wie sähe die Menschheit wohl aus, wenn wir anstelle von Konsum mit einem Fremden sprechen, Komfortzonen erweitern, neue Erfahrungen machen oder einen inspirierenden Artikel lesen würden – so wie hoffentlich diesen.

*Interview von Rolf App mit Harald Welzer “Wer in der Schweiz lebt, hat kein Recht, Pessimist zu sein» im Tagblatt vom 22.02.2019. Abgerufen am 14.04.2021 von: https://www.tagblatt.ch/leben/harald-welzer-wer-in-der-schweiz-lebt-hat-kein-recht-pessimist-zu-sein-ld.1095979

Artikel als PDF zum lesen Mit weniger zu Meer [1]